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Ein Blick in die Kristallkugel

… die wir nicht haben. Doch unser Fachwissen und unsere jahrelange Erfahrung erlauben uns eine Projektion.

23. März 2021

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Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Wir stehen vor einem Problem, das Arno Karlen bereits 1995 in seinem sehr lesenswerten Buch „Man and Microbes“ beschrieb:

„Die besorgniserregendste Schwachstelle der Menschheit ist ihre gering ausgeprägte Tendenz, im ureigenen Interesse zu handeln. Ignoranz, Gier und Kurzsichtigkeit halten uns häufig davon ab, die Mittel einzusetzen, über die wir verfügen.“

Die Pandemie geht derzeit nicht nur in Deutschland wieder ins exponentielle Wachstum über. Wir alle befinden uns bereits in der dritten Infektionswelle, mit neuen SARS-CoV-2 Mutanten. Letzte Woche haben sich allein in Deutschland über 90.000 Menschen neu infiziert. Das sind über 30 % mehr als in der Vorwoche. Wie wird wohl diese Woche aussehen?

Heute widmen wir uns den Mutanten, was ihr Entstehen befördert, wie sie die Pandemie treiben, und immer wieder ein größeres Zahnrad antreiben, mit vielen Menschen, die darunter geraten.

Wir stellen fest, dass die Pandemiewellen durch Veränderungen des Virus eine neue und größere Dimension erreichen.

Mehrere Faktoren begünstigen die Entstehung neuer viraler Varianten:

Das Virus benötigt Raum (in Form von zahlreichen Infektionen), um sich zu verändern. Bei jeder neuen Infektionsrunde hat das Virus die Gelegenheit, zu mutieren, das ist ein einfacher biologischer Prozess. Viren haben eine Generationszeit von wenigen Stunden, daher verläuft ihre Evolution gleichsam im Zeitraffer.

Viren mutieren regelmässig. Eine gefährlichere und sich besser verbreitende Variante wird sich durchsetzen. Das ist nur eine Frage der Zeit. Cartoon Oliver Hoogvliet

Dies bedeutet, dass wir zahlreiche Mutationen generieren, die aggressiver und infektiöser sind, der Immunantwort ausweichen können und sich schneller verbreiten (auch und gerade aufgrund mangelnder Quarantäne-Maßnahmen). Die älteren Varianten werden verdrängt und verschwinden wieder.

Nachdem das Virus ausreichend Zeit hatte, sich weltweit in der Bevölkerung festzusetzen, wird es bleiben. Es wird nicht mehr verschwinden oder ins Tierreich abtauchen (bis zu einem Zeitpunkt, an dem es wieder zurückkehrt). Das war ursprünglich eine Hoffnung, wenn ein Zurückdrängen des Virus funktioniert hätte, mit nichtpharmazeutischen Interventionen, wie Mund-Nasenschutz, Abstand und Quarantäne, bei konsequentem Verhalten der Bevölkerung und der Politik. Diese Chance haben wir leider im Sommer 2020 verpasst.

Was ist die Alternative zum Ziel, das Virus konsequent zu bekämpfen und komplett zu verdrängen? Die Alternative bildet die endlose Abfolge von Infektionswellen.

Wie man mit den Infektionswellen umgehen kann, zeigen die zahlreichen ethischen und unethischen Einstellungen von Politiker*innen und Mediziner*innen und mancher selbsternannter „Expert*innen“ oder Berater*innen. Die Bandbreite reicht von einer zügellosen Durchseuchung der Bevölkerung (wie in Brasilien oder Schweden) bis hin zum diktatorisch durchgesetzten Lockdown, wie z. B. in China.

Eine zügellose Durchseuchung wird nicht funktionieren, da immer wieder neue Virus-Varianten auftreten, und es eine langanhaltende Immunität nicht gibt. Einen Herdenschutz gibt es nur, wenn eine Immunität über einen sehr langen Zeitraum, am besten lebenslang, andauert. Dies konnte bei anderen Krankheiten erreicht werden, entweder durch Impfung oder das Überleben einer Infektion.

Ein Beispiel liefert uns die Millionenstadt Manaus in Brasilien. Brasiliens Regierung hatte die Pandemie ignoriert, mit allen Folgen. Die Stadt Manaus wurde in der ersten Welle im Frühjahr 2020 hart getroffen. Die Krankenhäuser konnten die wenigsten Patienten aufnehmen, Tausende starben zuhause, die Friedhöfe konnten die Toten nicht mehr aufnehmen, stattdessen wurden Tausende von Gräbern improvisiert. Ein furchtbares Szenario. Die Durchseuchung der Gesamtbevölkerung wurde auf 50-70 % geschätzt. Diese Zahl führte zu dem Irrglauben, dass die Stadt einen Herdenschutz hätte. Sämtliche Schutzmaßnahmen wurden beendet und seit November explodieren die Fälle dort erneut.

Die Situation in Manaus hat eine wichtige Lektion zu bieten: Nach nur acht Monaten kann von einem Herdenschutz nicht mehr gesprochen werden. Eine langanhaltende Immunität ist NICHT gegeben. Neue Varianten infizieren auch diejenigen, die COVID-19 bereits durchgemacht haben. Das hat wichtige Implikationen für die Impfungen: Diese müssen nicht nur ständig aufgefrischt werden, sondern auch regelmäßig an neue Varianten angepasst werden.

Was befeuert die Entstehung von Mutationen noch?

In der Biologie kennt man den Selektionsdruck und seine Auswirkungen. Übt man Druck auf einen Krankheitserreger aus, dann weicht dieser aus. Der Druck (die Bekämpfung) muss dabei so groß sein, dass der Krankheitserreger vernichtet wird. Alles andere endet in einer Anpassung oder einem Ausweichen des Krankheitserregers. Das ist bei Bakterien gegeben, bei Viren und bei Parasiten.

Die Bekämpfung bakterieller Krankheiten mit Antibiotika hat schnell gezeigt, dass eine Anwendung in der landwirtschaftlichen Massentierhaltung längerfristig das Gegenteil dessen bewirkt, was mit den Antibiotika bezweckt wurde. Aber auch in Kliniken haben wir heute multiresistente Bakterien, die durch falsche Anwendung von Antibiotika und durch ein mangelndes Verständnis von Mikrobiologie und Hygiene entstehen konnten.

Bei Pflanzen sieht man das ebenfalls. Wenn ein Parasit mit einem Spritzmittel bekämpft wird, passt sich der Parasit mit der Zeit an das Gift an, zum Ärger der Landwirt*innen, der Landschaftsgärtner*innen, der Hobby-Gärtner*innen bzw. Besitzer*innen von akribisch angelegten Gärten. Die Schönheit der Gärten ist hier wichtiger als die Gesundheit der Pflanzen und das ökologische Gleichgewicht. Am Beispiel des Eichenprozessionsspinners, dessen Raupen derzeit zahllose Eichen in deutschen Wäldern und Gärten zerstören, sieht man, wohin diese Denkweise führt. Eine natürliche Bekämpfung der Raupen geschieht beispielsweise durch Schlupfwespen oder Fressfeinde wie Vögel. Wird der Garten mit chemischen Spritzmitteln behandelt, gibt es weder Wespen noch Vögel, die die Raupen des Spinners in Schach halten könnten.

Am Beispiel von HIV/AIDS haben wir gesehen, dass eine Monotherapie, also eine Bekämpfung des Virus mit nur einem Medikament ebenfalls Mutationen hervorbrachte, die sich dann immer weiter ausbreiteten. Die HIV-Varianten, die dann bei Infektionen weitergegeben wurden, waren gegen diese Medikamente bereits resistent. Unsere Kolleginnen und Kollegen in den USA, mit denen wir viele Jahre zusammengearbeitet haben, konnten eine Therapie aus drei unterschiedlichen Wirkstoffen entwickeln, die sofort nach Erkennen einer Infektion verabreicht werden, bevor sich das Virus im Körper ausbreiten kann. Das war und ist bis heute die einzige Behandlungsmöglichkeit. Ansonsten schützt eine Unterbrechung des Übertragungsweges durch Prophylaxe (z. B. mit Präservativen).

Die aktuelle Situation: Derzeit wird durch ein paar wenige Impfungen ein leichter Selektionsdruck auf SARS-CoV-2 ausgeübt. Auch eine Impfquote von 70 % reicht nicht aus, wie das Beispiel Manaus zeigt. Zeitgleich ändern die Menschen ihr Verhalten nicht. Was nicht verboten ist, wird gemacht, die unmittelbare Befriedigung eines Bedürfnisses zählt mehr als die Sinnhaftigkeit des Handelns.

Das hat noch einen weiteren Einfluss auf den Pandemieverlauf: Aus ganz Europa strömen seit letzter Woche Touristen auf die Balearen, aus jedem Land kommt ein Mix an Virusmutanten auf die Inseln, um sich dort munter zu verbreiten. Das ist ein wahrer Schmelztiegel. Dies begünstigt weitere Infektionen, die wiederum dem Virus den Boden für die Entstehung von neuen Mutationen bietet.

Wenn sich von Seiten der Politik nicht schleunigst etwas ändert, und den Menschen ein sinnvoller, langfristiger Leitfaden an die Hand gegeben wird, werden nicht nur weitere Infektionswellen folgen, sondern es wird auch die Glaubwürdigkeit der Politik nachhaltig Schaden nehmen.

Leider handeln die Bundesregierung und die Länderregierungen inkonsequent, inkonsistent, undurchsichtig, zu spät, durch Lobbyismus getrieben, anstatt sinnvolle und vor allem nachvollziehbare Maßnahmen zu treffen. Das Hin und Her mit Verschärfungen und Lockerungen muss beendet werden. Auch in zwei Wochen wird die Situation keine andere sein. Das Virus ist berechenbar, die deutsche Politik leider nicht.

Wenn das Verhalten der Menschen sich nicht ändert, wird uns dieses Virus mit seinen Eigenschaften in aufeinander folgenden Infektionswellen mit immer neuen Mutanten nach und nach auf allen Ebenen herunterarbeiten. Die signifikanteste Ebene ist die Gesundheit der Bevölkerung, denn ohne physische und psychische Gesundheit funktioniert kein System, kein Land, keine Volkswirtschaft und kein Sozialsystem. Am Ende stehen wir vor einem Scherbenhaufen. Das kann nur verhindert werden, wenn wir dieses Virus konsequent und schlagkräftig bekämpfen. Neben Maskenpflicht und Distanz haben wir weitere Hilfsmittel zur Hand. Diese müssen aber konsequent, flächendeckend und korrekt angewandt werden. Die konsequente Anwendung aller vorhandener Mittel (Impfung, Tests, Kontaktnachverfolgung, Quarantäne) ist ein absolutes MUSS, um noch größeren Schaden abzuwenden. Dazu gehören auch die mögliche Schließung von Schulen und Kitas, das verpflichtende tägliche Testen am Arbeitsplatz, sowie bundesweite Aufklärungskampagnen, denn anscheinend verstehen noch immer viele Menschen nicht, worum es hier geht. Im Wahlkampf werden Millionen für Kampagnen verbrannt, warum nicht auch für einen sinnvollen Zweck?

Für die Zukunft ist es weiterhin notwendig, neben Impfungen auch ein Arsenal an Medikamenten zu entwickeln. Impfungen helfen präventiv, doch Medikamente retten im Akutfall. Nur so kann eine Pandemie schlagkräftig bekämpft werden, ohne der Bevölkerung monatelange Unsicherheiten zuzumuten.

Zum Schluss haben wir einen Nachtrag zum deutschen Urlaubsreisewahnsinn: Die britische Regierung wird diese Woche ein Gesetz erlassen, nach dem Auslandsreisen, die ohne triftigen Grund durchgeführt werden, mit einer Geldbuße geahndet werden. Die Reiserückkehrer müssen dann pro Kopf £ 5000 (das entspricht € 5800) Strafe bezahlen. Die britische Regierung will den Eintrag neuer Infektionen verhindern und hat offensichtlich bemerkt, dass es mit dem Aufruf zur Eigenverantwortung nicht getan ist. Doch warum müssen wir dies britischen und amerikanischen Medien entnehmen, während die deutschen dies verschweigen?

Die gestern verhandelten Maßnahmen kommen leider zu spät, sind wieder inkonsequent, sie werden nicht reichen, „die Welle zu brechen“, wie Herr Braun in einem Interview vollmundig angekündigt hatte.

Zur Erinnerung: Der Wettlauf gegen das Virus ist in vollem Gange! Wir sind mitten drin!

Der Weg aus der Pandemie in einer Übersicht, von Dr. Sabine Breun und Dr. Jörg Baumann, SAJO – innovation in infectious diseases, Verwendung der Abbildung ist zulässig nur unter Angabe der Autoren! (Für eine Vergrößerung der Darstellung drücken Sie bitte STRG+).

Wir verweisen auf unsere zwei Blog-Beiträge zur Strategie 2021.

https://www.sajo-innovation.de/blog/de/call-to-action-asap/ https://www.sajo-innovation.de/blog/de/strategie-2021-gegen-sars-cov-2/

Ihre Sabine Breun und Jörg Baumann

SAJO berät rund um Infektionskrankheiten. Wir wenden unser Wissen an, das wir aus der Infektionsforschung über mehr als 20 Jahre international erarbeitet haben. Wir tun, was wir können, um diese Pandemie zu bekämpfen.

SAJO – für eine gesündere Welt und bessere Zukunft!

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Ein herzliches Dankeschön an Oliver Hoogvliet für die großartige Zeichnung ollihoo (https://hoogvliet.de).

Blog post No. 161. Unser Blog erfährt eine breite Akzeptanz, was uns sehr erfreut, wir teilen gerne unser Wissen. Einzelne Beiträge und Inhalte werden von zahlreichen anderen übernommen, auch von vielen Medien. Wir haben noch gelernt, wie man richtig zitiert, und es würde uns umgekehrt auch erfreuen. Abschreiben und Kopieren ist uncool! Außerdem: Bitte empfehlen Sie unseren Blog weiter – er ist ein informatives Werkzeug im Kampf gegen Pandemien.

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